„Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.“ Ingeborg Bachmanns Worte erinnern uns daran, dass die Geschichte nicht automatisch Lehren zieht, sondern mahnt uns, dass es an uns ist, uns – gerade an Tagen wie dem Volkstrauertag heute - die schmerzhaften Erinnerungen an die Vergangenheit zu bewahren und die Lehren der Geschichte zu hören.
Dies wollen wir heute tun, wir wollen gemeinsam der Opfer der schrecklichen Weltkriege des 20. Jahrhunderts gedenken, uns ihrer Geschichten erinnern, einen Moment innehalten und hinschauen:
1933- Vor 90 Jahren wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt, ein zentrales Ereignis in der deutschen Geschichte, das vor 85 Jahren am 9.November 1938 in die Gewaltexzesse der Reichspogromnacht und schließlich in den Schrecken des Zweiten Weltkrieges führte und mit dem Holocaust eines der grausamsten und unmenschlichsten Kapitel der Weltgeschichte aufschlug.
Bis heute schauen wir mit Fassungslosigkeit und Unverständnis zurück und versuchen zu verstehen, wie das alles geschehen konnte, wie die Menschen das zulassen konnten. Wir hören die Geschichten, sehen die Bilder in unseren Geschichtsbüchern und auf dem History Channel, wir kennen die Erklärungsansätze.
Und doch erleben wir, wie unsere Demokratie immer stärker unter Druck gerät, wie die Rechtspopulisten und extremistische Gruppierungen immer mehr Zuspruch und Zulauf bekommen, wie Hass auf Minderheiten wächst und ganz offen zu Tage tritt.
Die Reaktion in der Öffentlichkeit sowie im Privaten darauf erscheint uns häufig gleichgültig: Zu viele Bilder strömen auf uns ein, zu bunt zu laut ist die Aufmachung in den Social-Media-Kanälen, die jeden Tag, jede Stunde und Minute von weiteren Katastrophen, Kriegen und Ungerechtigkeiten zeugen.
Wenn zwischen zwei TikTok- Videos über einen brutalen Angriff der Hamas auf ein Musikfestival berichtet wird und damit eine neue Eskalationsstufe im Nahostkonflikt eingeleitet wird, die in einen Krieg um den Gaza-Streifen mündet, müssten wir alle innehalten und erschrecken.
Wenn zwischen zwei Instagramm Posts, eine ukrainische Ärztin von Gräueltaten der russischen Armee berichtet, müssten wir innehalten und erschrecken.
Wenn auf Twitter oder jetzt X Jüdinnen und Juden in Deutschland davon berichten, dass die Schule ihrer Kinder von der Polizei bewacht werden muss oder die Erzieherinnen mit den Kleinen keine Ausflüge unternehmen aus Angst vor Anfeindungen, weil sie jüdischen Glaubens sind, müssten wir innehalten und erschrecken.
Tatsächlich ertappen wir uns- unsere Generation aber auch die Generationen unserer Eltern und manchmal auch Großeltern dabei, wie erschreckend belanglos über diese Ereignisse gesprochen wird, was man für richtiger hielte, auf welcher Seite man wäre? Als sprächen wir über ein Fußballspiel.
Viel zu leicht scheint es uns weiter zu klicken oder weg zu klicken, wenn wir den Anblick von Kriegsopfern und Geflüchteten nicht mehr ertragen, wenn wir uns nicht mehr mit dem Klimawandel und den katastrophalen Folgen auseinandersetzen möchten, wenn wir die mal mehr oder weniger offenen rechten Parolen in Talkshows und Bundestagsreden, die viel zu leichte und kurzgedachte Lösungen bieten, nicht mehr hören wollen.
Viel zu anonym und verführerisch sind die Möglichkeiten, die uns das World Wide Web bietet, um mal „Dampf abzulassen“, um anderen „endlich mal offen unsere Meinung“ zu sagen – so ganz ohne jemanden dabei in die Augen zu schauen, ohne direkt Rede und Antwort stehen zu müssen und so ganz ohne seine Vorwürfe fundiert begründen zu müssen.
Viel zu ermüdend ist es, sich dem Strom der politiküberdrüssigen und demokratiemüden Massen zu widersetzen.
Die Gleichgültigkeit scheint uns ein Ausweg, um all diese Dinge, die da tagtäglich, Stunde um Stunde und minütlich auf uns in den bunten lauten Videos und Bildern einströmen zu ertragen und Gleichgültigkeit schleicht sich in unsere Herzen.
Aber wenn wir genau hinschauen und hinhören, lehrt und mahnt uns die Geschichte erneut:
„Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um euer Herz gelegt, entscheidet euch, eh es zu spät ist!“
Dies sind Worte, die die Widerstandsgruppe „Die Weiße Rose“ um die Geschwister Scholl – zu Beginn des Jahres 1943 – vor 80 Jahren- an alle Deutschen richtete.
Kurz darauf wurden Hans und Sophie Scholl sowie Christoph Probst von den Nationalsozialisten zum Tode verurteilt und hingerichtet.
So mahnend und flehend die Worte damals waren, so sind sie es auch heute und wir haben erneut die Chance und die Pflicht ihnen Gehör und Bedeutung zu schenken und uns zu entscheiden, in was für einer Welt wir leben möchten.
Die Geschichte erzählt immer wieder von Menschen, die gegen Unterdrückung und Unmenschlichkeit mutig aufgestanden sind /aufbegehrt haben und für Freiheit, Menschlichkeit und Demokratie gekämpft haben, so wie es die jungen Mitglieder der Weißen Rose getan haben, aber auch so wie im Sommer 1953- vor 70 Jahren- die Menschen in der DDR ihrer Sehnsucht nach Freiheit im Volksaufstand des 17. Junis gegen alle Gefahren und Widrigkeiten Ausdruck verliehen.
All diese Ereignisse 1933,1938, 1943, 1953- sind Mahnmale und Leuchtfeuer unserer Geschichte, die uns mahnen, die uns erinnern und deren Lehren wir hören sollten:
Seid nicht leichtfertig, hört nicht gleichgültig zu, wenn Hass und Intoleranz unser Zusammenleben bedrohen.
Nehmt die Demokratie und Freiheit nicht als selbstverständlich hin, werdet nicht müde genau hinzusehen und -zuhören und einzustehen für die Welt, in der wir gemeinsam in Frieden und Freiheit leben möchten.
„Wer die Vergangenheit vergisst, ist verdammt sie zu wiederholen“.
Vergessen wir also nicht, lasst uns die Erinnerung bewahren und mit offenen Augen und Herzen unsere Zukunft gestalten.
Vielen Dank!